Energiewende im Bestand: Was seit 2019 schief- und vorangegangen ist – und was WEGs jetzt praktisch tun müssen


Ausgangspunkt 2019: Rüge des Bundesrechnungshofs, breite Zustimmung – wenig Umsetzung

Am 08.03.2019 kritisierte der Bundesrechnungshof das Projektmanagement der Bundesregierung zur Energiewende: zu teuer, zu komplex, zu viele Zuständigkeiten, zu wenig Steuerung. Parallel zeigte das KfW-Energiewendebarometer eine sehr hohe gesellschaftliche Zustimmung. Der Widerspruch war offensichtlich: politischer Wille und Akzeptanz waren da, im Wohnungsbestand – gerade in Wohnungseigentümergemeinschaften – blieb die Sanierungsquote dennoch niedrig.


Seit 2019: Neue Regeln, gleiche Zielrichtung, höhere Komplexität

  • Klimapolitischer Rahmen: Ambitioniertere EU- und Bundesziele, Nachschärfungen im Klimaschutzrecht, neue Monitoring- und Berichtszyklen.
  • Wärme/Heizen: Nationaler CO₂-Preis ab 2021, ab 2027 Übergang in den EU-Emissionshandel für Gebäude/Verkehr (ETS-2). Die Preiswirkung macht fossiles Heizen messbar teurer und setzt Investitionssignale.
  • Gebäuderecht und Förderlogik: Reformen und Re-Kalibrierungen bei GEG/BEG/KfW-Programmen, stärkere Kopplung von Förderung an Effizienz, erneuerbare Wärme und seriell/skalierbare Lösungen. Förderrichtlinien und Budgets wurden mehrfach angepasst – Planungsqualität und Timing sind entscheidend.
  • Kommunale Wärmeplanung: Strategische Rahmen für Quartiere und Netze. Wärmenetze, Contracting und „H2-ready“-Diskussionen beeinflussen Einzelobjekt-Entscheidungen.
  • Digitalisierung: Pflicht zur fernablesbaren Messtechnik im Wärmebereich, monatliche Verbrauchsinformationen, Portale und Apps. Datenkompetenz wird zur Betriebskostensenkung relevant.

Der Kernkonflikt in WEGs: hohe Ansprüche, wenig Ressourcen, heterogene Eigentümer

  • Heterogene Ziele der Eigentümer (Selbstnutzer vs. Kapitalanleger) erschweren Mehrheitsentscheidungen, insbesondere bei großen Investitionen mit langen Amortisationszeiten.
  • Fachkräftemangel in Planung, Handwerk und Verwaltung verlängert Vorläufe und verteuert Leistungen.
  • Rechts- und Förderdynamik erhöht Beratungsaufwand und Haftungsdruck für Verwalter erheblich.
  • Preis- und Kapazitätsschwankungen auf den Beschaffungsmärkten mindern Kalkulationssicherheit.

Was heute besser funktioniert als 2019

  • Transparenz über Verbräuche: Fernauslesung und Monatsinfos machen Einsparpotenziale sichtbar.
  • Technikpfade: Wärmepumpen im Bestand, Hybridlösungen, PV-gekoppelte Systeme, serielle Sanierung und modulare Hüll-Pakete sind ausgereifter und skalierbarer.
  • Quartiersdenken: Nahwärme, Contracting und PPA-Modelle treten häufiger als realistische Optionen auf.
  • Beschlusskultur: Mehr WEGs arbeiten mit Sanierungsfahrplänen, Step-by-Step-Beschlüssen und zweistufigen Finanzierungsmodellen (Rücklage + Sonderumlage/Kreditlinie).

Was weiterhin bremst

  • Entscheidungszeit: Mehrstufige Beschlussfassungen, Anfechtungsrisiken, uneinheitliche Informationsstände.
  • Unterfinanzierte Rücklagen: Sanierungsbedarf trifft auf zu niedrige Zuführungen.
  • Komplexe Förderkulissen: Häufige Anpassungen erfordern professionelle Begleitung, sonst werden Fenster verpasst.
  • Überzogene Erwartungshaltungen: 24/7-Verfügbarkeit von Verwaltern ist wirtschaftlich nicht darstellbar; rechtssichere Prozesse und qualifizierte Projektsteuerung benötigen planbare Zeitfenster.

Rolle der Verwaltung: vom „Abrechner“ zum Projekt- und Risikomanager der Energiewende

Gute WEG-Verwaltung ist heute Energiewende-Management im Kleinen. Aufgabenbündel:

  • Systemanalyse des Bestands (Wärme, Hülle, PV-Flächen, Netzanbindung).
  • Szenarien mit TCO/CO₂-Bilanzen: „Weiter so“ vs. WP/Hybrid vs. Netzlösung.
  • Förder- und Zeitmanagement: „Förderung → Beschluss → Vergabe“, Meilensteine, Fristen.
  • Beschlussarchitektur: Technik-, Finanzierungs-, Ausführungs- und Vollmachtsbeschlüsse klar trennen.
  • Vergabe: Leistungsbeschreibungen, Eignungskriterien, Gewährleistungs- und Servicelevel.
  • Kommunikation: Eigentümer-Onboarding, Sprechstunden, digitale Unterlagen und Baubegleitung.

Dieser erweiterte Leistungsumfang ist mit pauschalen Grundvergütungen nicht abbildbar. Sondervergütungen sind betriebswirtschaftlich notwendig und für die Gemeinschaft kalkulierbar: Sie sichern Kapazitäten, Qualität und Termintreue.


Finanzierung und Wirtschaftlichkeit: fünf Stellhebel

  1. Rücklage realitätsnah anheben (Benchmark: Lebenszyklus- und CO₂-Kosten).
  2. Fördermix aktiv planen (Investitionszuschüsse, zinsverbilligte Darlehen, steuerliche Optionen).
  3. Contracting/Quartier prüfen, wenn Objektgröße/Lage passen.
  4. Stufenbau: No-Regret-Maßnahmen sofort, tiefe Eingriffe nach Plan.
  5. Risiken (Preis, Bauzeit, Technik, Recht) in Puffer, SLA und Gewährleistung abbilden.

Praxisleitfaden für WEGs: 12-Monats-Fahrplan

  1. Monat 1–2: Bestandsaufnahme Wärme/Hülle, Energiemonitoring etablieren.
  2. Monat 3: Variantenvergleich mit TCO/CO₂ und Förderroadmap.
  3. Monat 4: Vorbeschluss „Pfadwahl“ + Mandat für Planung/Vergabe.
  4. Monat 5–6: Vorplanung, EnEV/GEG-Nachweise, Netz/Schall/Statik-Checks.
  5. Monat 7: Finanzierungsmodell (Rücklage, Sonderumlage, Kreditlinie) festzurren.
  6. Monat 8: Vergabeunterlagen, Eignungsprüfung, Bietergespräche.
  7. Monat 9: Beschluss Technik+Vergabe+Vollmacht, Förderantrag final.
  8. Monat 10–12: Ausführung, Baucontrolling, Abnahme, Inbetriebnahme, Einweisung, Monitoring.

Technikquickwins vs. Tiefeneingriffe

  • Sofort: Heizkurve/Nachtabsenkung, hydraulischer Abgleich, Hocheffizienzpumpen, Leitungsdämmung, Regelungsupdate, Tür-/Fensterdichtungen, Sturmlüftungsregeln.
  • Mittelfristig: WP/Hybrid (Vorlauftemperaturen prüfen), PV mit Direktverbrauch, Warmwasserbereitung optimieren, Fenster mit gutem Uw, Dach/Kellerdecke.
  • Tief: Fassade/Brücken, Quartierswärme, Speicherintegration, serielle Elemente.

Kommunikation und Erwartungsmanagement

  • Erreichbarkeit: Keine 24/7-Linie. Verbindliche Bürozeiten, Notfallprozesse und definierte Eskalationen sind Standard – und im Sinne von Qualitätssicherung und Arbeitsschutz notwendig.
  • Transparenz: Digitale Unterlagen, Meilensteine, Ampelberichte, Monatsinfos zu Verbrauch und Baufortschritt.
  • Kalkulierbarkeit: Klare Honorarmodelle, ausgewiesene Sondervergütungen für Projekt- und Bauleitung.

Für Mietobjekte: Parallele Logik, andere Stellschrauben

  • Kosten/Nutzen zwischen Vermieter und Mietern sauber abbilden (Betriebskosten, Modernisierungsumlage, CO₂-Kostenaufteilung).
  • Förderzugang und Qualifikationsnachweise früh sichern.
  • Mieterkommunikation: Zeitpläne, Zutritt, Pausen, Härtefälle standardisieren.
  • Energiemonitoring und Nutzerinformationen zur Verhaltenssteuerung nutzen.

Fazit

Die Energiewende im Gebäudebestand ist seit 2019 nicht einfacher, aber machbarer geworden. Der Mix aus CO₂-Bepreisung, kommunaler Wärmeplanung, digitalem Betrieb und erprobten Technikpfaden liefert genug Hebel, um Betriebskosten und Emissionen spürbar zu senken. Entscheidend sind Projektfähigkeit, Finanzierung und Erwartungsmanagement. WEGs, die mit Fahrplan, belastbaren Beschlüssen und professioneller Begleitung vorgehen, erreichen messbare Effekte – ohne die Gemeinschaft zu überfordern.


Autor: Harald Reiner, Hausverwaltung Reiner GmbH  |  Aktualisiert am: 28.10.2025