BGH zum „Abwehrmonopol“ der Gemeinschaft: Individualklagen nur noch ausnahmsweise (V ZR 86/21)
Einleitung
Das Wohnungseigentumsmodernisierungsgesetz (WEMoG) hat die Störungsabwehr neu geordnet. Der Bundesgerichtshof (BGH) stellte mit Urteil vom 28.01.2022 (V ZR 86/21) klar: Bei Störungen, die das gemeinschaftliche Eigentum betreffen oder gegen das in der Gemeinschaft geltende Regelwerk verstoßen, liegt die Rechts- und Prozessführungsbefugnis grundsätzlich bei der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer (GdWE). Der einzelne Eigentümer kann nur noch in engen Ausnahmefällen selbst klagen.
Der Fall in Kürze
Zwei Wohnungseigentümerinnen stritten in einer Fünfer-Gemeinschaft über Umbauten und eine Nutzung im Kellerbereich (Deckendurchbruch, Absenkung der Kellersohle, Gästezimmer). Die Klägerin erhob bereits vor dem 01.12.2020 Klage auf Auskunft, Zutritt, Beseitigung/Wiederherstellung und Unterlassung einer zweckbestimmungswidrigen Nutzung. Nach Inkrafttreten des WEMoG beschloss die GdWE, der Klägerin die Anspruchsverfolgung zu untersagen; der Verwalter teilte dies dem Gericht mit. Amtsgericht gab weitgehend statt, Landgericht wies ab. Der BGH bestätigte die Klageabweisung im Ergebnis.
Kernaussagen des BGH (V ZR 86/21)
GdWE ist Trägerin der Abwehrrechte bei Beeinträchtigungen des Gemeinschaftseigentums und bei Verstößen gegen das gemeinschaftliche Regelwerk. Rechtsgrundlage: § 9a WEG (einheitliche Rechtsausübung) i. V. m. § 14 Abs. 1 Nr. 1 WEG (Abwehransprüche des Verbands).
Individualklage ist unzulässig, wenn Ansprüche das Gemeinschaftseigentum oder das Regelwerk betreffen; dann fehlt dem Einzeleigentümer die Prozessführungsbefugnis und regelmässig auch die Aktivlegitimation.
Ausnahme: Der Einzeleigentümer kann Unterlassung verlangen, wenn er tatsächliche Beeinträchtigungen im räumlichen Bereich seines Sondereigentums substantiiert darlegt und beweist (z. B. Lärm, Geruch, Erschütterung, Lichtentzug). Rechtsgrundlage: § 14 Abs. 2 WEG.
Altverfahren: Eine vor dem 01.12.2020 bestehende Individualbefugnis kann durch eine klare Verwaltererklärung im Prozess entfallen. Der Verwalter handelt als vertretungsberechtigtes Organ der GdWE (§ 9a WEG). Die Klägerin hätte auf die Erklärung mit Hauptsacheerledigung reagieren müssen.
Zweckbestimmung vs. tatsächliche Störung: Die bloße zweckbestimmungswidrige Nutzung von Sondereigentum begründet keinen individuellen Unterlassungsanspruch des Nachbarn mehr; Anspruchsinhaberin ist die GdWE.
Zuständigkeiten seit WEMoG: Systematik
Prozessführungsbefugnis betrifft, wer im eigenen Namen klagen darf. Aktivlegitimation betrifft, wem der materielle Anspruch zusteht. Seit WEMoG verfolgt die GdWE Abwehransprüche aus § 14 Abs. 1 Nr. 1 WEG selbst. Der einzelne Eigentümer ist nur für Störungen im eigenen Sondereigentum nach § 14 Abs. 2 WEG befugt.
Praxisfolgen für Eigentümer, Beirat und Verwaltung
Neuverfahren: Bei Regelverstößen oder Beeinträchtigungen des Gemeinschaftseigentums immer über die GdWE vorgehen. Beschlusslage zu Beauftragung, Prozessführung und Budget herstellen.
Altverfahren: Prüfen, ob eine eindeutige Verwaltererklärung abgegeben werden soll. Sie entzieht Individualklagen die Befugnis. Dokumentation im Protokoll und Schreiben an das Gericht.
Individualanspruch nur mit Substanz: Für § 14 Abs. 2 WEG sind konkrete Störungen im eigenen Bereich darzulegen und zu beweisen. Abstrakte Befürchtungen genügen nicht.
Beschlusspraxis: Bei zweckwidriger Nutzung zunächst GdWE-Beschluss zur Rechtsverfolgung; alternativ Ermächtigung des Einzeleigentümers zur Klage im Namen der GdWE erwägen (Kosten-/Risikosteuerung).
TE/GO prüfen: Zweckbestimmungen und Öffnungsklauseln klar und vollzugsfähig formulieren; unklare Begriffe vermeiden.
Checkliste: Vorgehen in der Praxis
Einordnung: Betrifft der Sachverhalt Gemeinschaftseigentum/Regelwerk oder nur Ihr Sondereigentum?
Beweise: Bei Individualweg Messprotokolle, Zeugen, Fotos, Gutachten. Konkrete Beeinträchtigungen dokumentieren.
Beschlussfassung: ETV-Beschluss zu Anspruchsverfolgung, Bevollmächtigung, Budget. Ggf. Ermächtigung des Betroffenen zur Prozessführung im Namen der GdWE.
Verwaltererklärung: In Altverfahren klare schriftliche Erklärung an das Gericht, wenn die GdWE nicht will, dass eine Individualklage fortgeführt wird.
Alternativen: Ordnungsmittel, Hausordnung, baurechtliche und brandschutzrechtliche Wege parallel prüfen.
Missverständnisse und Klarstellungen
„Ich kann immer selbst klagen.“ Nein. Bei Gemeinschaftsthemen klagt die GdWE.
„Zweckwidrig = automatisch Unterlassung“ beim Nachbarn. Falsch. Anspruchsinhaberin ist die GdWE; Individualanspruch nur bei tatsächlicher Beeinträchtigung des eigenen Sondereigentums.
„Altklage läuft einfach weiter.“ Nicht zwingend. Eine Verwaltererklärung kann die Befugnis entziehen.
FAQ
Wann darf ich noch selbst klagen? Wenn Sie Störungen im eigenen Sondereigentum (Lärm, Geruch, Erschütterung etc.) konkret nachweisen können (§ 14 Abs. 2 WEG).
Wer klagt bei Regelverstößen/baulichen Eingriffen am Gemeinschaftseigentum? Die GdWE (§ 9a WEG, § 14 Abs. 1 Nr. 1 WEG).
Was tun, wenn die GdWE untätig bleibt? Beschluss über Anspruchsverfolgung beantragen; bei Ablehnung ggf. Beschlussersetzungsklage erwägen. Ermächtigung des Betroffenen zur Prozessführung im Namen der GdWE ist ein pragmatischer Weg.
Fazit
Nach WEMoG liegt die Störungsabwehr regelmäßig bei der GdWE. Individualklagen sind die Ausnahme und setzen eine substantiiert nachweisbare Beeinträchtigung im eigenen Sondereigentum voraus. Für Verwaltung und Beirat gilt: Zuständigkeiten korrekt zuordnen, Beschlussarchitektur sauber aufsetzen, Beweise früh sichern und – wo sinnvoll – den Betroffenen zur Prozessführung im Namen der GdWE ermächtigen.
Ursprünglicher Artikel: 23.04.2022
Aktualisiert am 13.10.2025 von Harald Reiner, Hausverwaltung Reiner GmbH

