§ 22 WEG (Wohnungseigentumsgesetz) – Wiederaufbau (nach Zerstörung)
(Zwingende Sperre des Wiederaufbaus bei > 50 % Zerstörung ohne vollständige Deckung)
Gesetzestext von § 22 WEG
Ist das Gebäude zu mehr als der Hälfte seines Wertes zerstört und ist der Schaden nicht durch eine Versicherung oder in anderer Weise gedeckt, so kann der Wiederaufbau nicht beschlossen oder verlangt werden.
Einleitung
§ 22 WEG schützt Eigentümer vor wirtschaftlicher Überforderung: Liegen mehr als 50 % Zerstörung am Gesamtgebäude und keine vollständige finanzielle Deckung (Versicherung/sonstige Dritte) vor, ist der Wiederaufbau rechtlich gesperrt – selbst bei Einstimmigkeit.
1. Die 50 %-Schwelle – worauf kommt es an?
- Maßstab: der Wert des gesamten Gebäudes unmittelbar vor dem Schadensereignis (nicht die einzelne Einheit).
- Nachweis: regelmäßig durch Gutachten (Zeit-/Neuwert, Wiederherstellungskosten), Versicherungsunterlagen und Kostenschätzungen.
- Beispiel: Tragende Bauteile und Dach sind zerstört; Gutachten bestätigt 70 % Wertverlust → Schwelle überschritten.
2. Vollständige Deckung – was zählt?
Wiederaufbau ist nur zulässig, wenn die Kosten vollständig durch Versicherung oder andere Dritte (z. B. Schädiger, staatliche Hilfen) gedeckt sind. Teildeckungen genügen nicht. Gemeinschaftliche Rücklagen ersetzen die gesetzlich geforderte Deckung nicht automatisch.
3. Rechtsfolge: Wiederaufbau gesperrt
- Sind beide Voraussetzungen erfüllt (> 50 % Zerstörung und keine volle Deckung), ist jeder Wiederaufbau-Beschluss unzulässig – auch einstimmig.
- Die GdWE bleibt bestehen, entscheidet aber über Alternativen (z. B. Grundstücksverwertung, Auseinandersetzung, Verwendung von Versicherungsleistungen).
4. Verhältnis zu anderen WEG-Normen
- Ordnungsmäßige Verwaltung/Benutzung (§ 19 WEG): Wird durch die Wiederaufbau-Sperre des § 22 begrenzt.
- Bauliche Veränderungen (§ 20 WEG): Betrifft den intakten Bestand – nicht den Wiederaufbau nach Totalschaden.
- Kostenverteilung (§ 21 WEG): Gilt für bauliche Veränderungen; beim Wiederaufbau hat § 22 Vorrang.
5. Vorgehen in der Praxis (Checkliste)
- Schaden sichern & dokumentieren (Gefahrabwehr, Fotos/Protokolle, Versicherer informieren).
- Bewertung: Unabhängiges Gutachten zu Wert, Schadenshöhe, Wiederherstellungskosten einholen.
- Deckung prüfen: Versicherung, Regress, staatliche Hilfen – ist volle Deckung erreichbar?
- Beschlusslage: Nur bei unter 50 % oder voller Deckung über Wiederaufbau beschließen; sonst Alternativen (Verwertung, Abwicklung) beschließen.
- Abwicklung: Umgang mit Versicherungsleistung, Darlehen, Rücklagen; steuerliche/rechtliche Beratung.
6. Praxisbeispiele
- Totalschaden ohne volle Deckung: Gutachten 65 % Zerstörung; Versicherung deckt 40 % → Wiederaufbau gesperrt, Alternativen beschließen.
- Sturmschaden mit voller Deckung: 30 % Schaden; Gebäudeversicherung zahlt vollständig → Wiederaufbau zulässig, Beschluss möglich.
- Schädiger reguliert 100 %: Explosion durch Drittschuldner; Haftpflicht ersetzt vollständig → Wiederaufbau zulässig.
7. Häufige Missverständnisse
- „Einstimmigkeit genügt“ – Nein. § 22 ist zwingendes Recht; ohne volle Deckung kein Wiederaufbau.
- „Rücklagen schließen Deckungslücken“ – Nicht automatisch. Das Gesetz verlangt Deckung durch Versicherung/andere Dritte.
- „Nur meine Einheit ist betroffen“ – Maßstab ist stets das gesamte Gebäude, nicht die einzelne Wohnung.
FAQs zu § 22 WEG
Gilt die Sperre auch in Mischnutzungsanlagen (Teileigentum)?
Ja, § 22 WEG gilt für alle Gemeinschaften – unabhängig von Wohn- oder Gewerbenutzung.
Wer entscheidet über die Verwendung der Versicherungsleistung?
Die Eigentümerversammlung durch Beschluss – innerhalb der Grenzen des § 22 WEG.
Kann ich auf eigene Faust wiederaufbauen?
Nein. Ohne zulässigen Gemeinschaftsbeschluss und unter Beachtung der gesetzlichen Voraussetzungen ist ein Einzelvorgehen unzulässig.
Was geschieht, wenn kein Wiederaufbau möglich ist?
Regelmäßig wird über Verwertung (z. B. Verkauf des Grundstücks) und die Verteilung von Mitteln entschieden; ggf. Auseinandersetzung.
Fazit
§ 22 WEG setzt eine klare Grenze: > 50 % Zerstörung und keine vollständige Deckung → kein Wiederaufbau. Für Verwaltung und Beirat gilt: erst objektiv prüfen (Gutachten/Deckung), dann rechtssichere Beschlüsse fassen – andernfalls drohen unwirksame Entscheidungen und Haftungsrisiken.
Verfasst von Harald Reiner, Hausverwaltung Reiner GmbH
Stand: September 2025