Teileigentum, Wohnnutzung und „typisierende Betrachtungsweise“ – Anmerkungen zum BGH-Urteil V ZR 284/19


Einleitung

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit Urteil vom 16.07.2021 (V ZR 284/19) Leitplanken zur Abgrenzung von Wohn- und Teileigentum, zur Auslegung von Nutzungsbeschränkungen in Teilungserklärung/Gemeinschaftsordnung (TE/GO) sowie zur typisierenden Betrachtungsweise gesetzt. Kernaussage: Eine Nutzung zu Wohnzwecken ist in Teileigentum grundsätzlich nicht zulässig. Ein Unterlassungsanspruch der Gemeinschaft kann gleichwohl fehlen, wenn Wohnen im konkreten Kontext nicht typischerweise störender ist als die zulässige Nutzung im Teileigentum. Damit bestätigt der BGH strenge Anforderungen an klare Nutzungsvereinbarungen und stärkt zugleich den Kontextbezug bei der Störungsabwägung.


Rechtsgrundlagen im Überblick

  • § 13 WEG – Gebrauch des Sondereigentums: Nutzung im Rahmen der vereinbarten Zweckbestimmung; keine Beeinträchtigung über das unvermeidliche Maß hinaus. Gesetzestext

  • § 14 WEG – Pflichten der Wohnungseigentümer: Rücksichtnahmepflichten, Unterlassung unzumutbarer Beeinträchtigungen. Gesetzestext

  • § 9a WEG – Stellung der GdWE: Einheitliche Rechtsausübung bei Störungen des Gemeinschaftseigentums. Gesetzestext

Maßgeblich bleibt, was in TE/GO klar und eindeutig vereinbart ist. Fehlt es an einer eindeutigen Zweckbestimmung, gilt die gesetzliche Grundsystematik: Wohnungseigentum = Wohnen; Teileigentum = alle zulässigen nicht wohnlichen Nutzungen.


Der Fall (Kurzfassung)

In einer gemischt genutzten Anlage existierten zwei Gebäude. Eine Einheit war in der TE/GO als Teileigentum (Scheune/Lagerraum) bezeichnet. Der Eigentümer riss die Scheune ab und errichtete ein Einfamilienhaus, das er zu Wohnzwecken nutzte. Die Gemeinschaft klagte auf Unterlassung der Wohnnutzung. Amts- und Landgericht gaben der Klage statt. Der BGH hob auf.


Kernaussagen des BGH

  • „Lagerraum“ ist regelmäßig keine Zweckbestimmung mit Vereinbarungscharakter. Ein bloßer Klammerzusatz oder eine Beschreibung der bisherigen Nutzung genügt nicht. Nutzungsbeschränkungen müssen klar, eindeutig und abschließend vereinbart sein.

  • Einseitige Nutzungsänderung setzt Öffnungsklausel voraus. Erlaubt eine Klausel nur bauliche Veränderungen, umfasst dies nicht die Änderung der Nutzungsart (Teileigentum → Wohnen). Eine Grundbuchumschreibung ersetzt keine fehlende Vereinbarung.

  • Wohnnutzung im Teileigentum bleibt an sich unzulässig. Die TE/GO bestimmt die Grenzen; Wohnen ist Zweck des Wohnungseigentums, nicht des Teileigentums.

  • Unterlassungsanspruch trotz Zweckverstoßes kann fehlen. Nach der typisierenden Betrachtungsweise ist Wohnen in einer gemischt genutzten Anlage nicht per se störender als zulässige gewerbliche Nutzungen des Teileigentums (z. B. Gastronomie, Beherbergung, Call-Center, SB-Waschsalon, Fitnessstudio, Co-Working). Ergebnis: Kein Unterlassungsanspruch im konkreten Fall.


Typisierende Betrachtungsweise: Systematik

Die Beurteilung erfolgt abstrakt-typisierend, nicht am Einzelfall-Verhalten der Bewohner. Entscheidend ist, ob die in Rede stehende Nutzungsart typischerweise mehr stört als die zulässige Nutzung im Teileigentum. In reinen Ärzte-/Bürohäusern kann Wohnen wegen des professionellen Charakters der Anlage typischerweise störender sein. In gemischt genutzten Anlagen gilt das nicht ohne Weiteres. Konsequent trennte der BGH deshalb zwischen Unzulässigkeit der Nutzungsart und Durchsetzbarkeit eines Unterlassungsanspruchs.


Praktische Folgen für GdWE, Beirat und Verwaltung

  • TE/GO „scharf stellen“: Zweckbestimmungen präzise formulieren. Beispiel: „Die Einheit Nr. X ist ausschließlich als Lager/Produktion ohne Publikumsverkehr nutzbar. Wohnnutzung ist ausgeschlossen.“ Unklare Begriffe vermeiden.

  • Öffnungsklauseln sauber fassen: Soll eine spätere Nutzungsänderung ohne Einstimmigkeit möglich sein, muss die Klausel ausdrücklich die Nutzungsart erfassen – nicht nur bauliche Veränderungen.

  • Abstufungen definieren: In gemischten Anlagen Störpotenziale typisierend beschreiben (z. B. Betriebszeiten, Lieferverkehr, Kundenzugang) und in Hausordnung/Beschlüssen operationalisieren.

  • Vorgehen bei Zweckverstoß: Vor Klage prüfen, ob Wohnen typischerweise störender ist als erlaubte gewerbliche Nutzungen. Andernfalls alternativ vorgehen: Auflagen, Hausordnung, Brandschutz-/Stellplatzthemen, baurechtliche Pflichten, Kostentrennung.

  • Beschlusspraxis: Klare Beschlüsse zur Rechtsverfolgung, Beweissicherung und Kommunikation. Bei Störungen des Gemeinschaftseigentums erfolgt die Rechtsausübung durch die GdWE (§ 9a WEG).


Checkliste: Vor der Unterlassungsklage

  1. Dokumente sichten: TE/GO, Aufteilungsplan, etwaige Nachträge, Hausordnung, frühere Beschlüsse.

  2. Zweckbestimmung klären: Liegt eine eindeutige Vereinbarung zur Nutzung vor? Bloße Beschreibungen genügen nicht.

  3. Öffnungsklausel prüfen: Erfasst sie explizit Nutzungsänderungen? Wenn nein, ist eine einseitige Umwidmung unzulässig.

  4. Typisierung vornehmen: Ist Wohnen typischerweise störender als die zulässige Teileigentumsnutzung? Kontext der Anlage berücksichtigen.

  5. Alternativen definieren: Auflagen, ordnungsrechtliche Wege, baurechtliche Prüfung, Brandschutz, Stellplätze, Müllkonzept.

  6. Beschlusslage schaffen: GdWE-Beschluss zu Vorgehen, Bevollmächtigung, Budget, Beweissicherung.


Missverständnisse und Klarstellungen

  • „Im Teileigentum darf man alles, nur nicht wohnen.“ Verkürzt. Zulässig ist, was TE/GO und öffentliches Recht erlauben. Unklare Formeln tragen nicht.

  • „Grundbuchumschreibung heilt die Nutzung.“ Nein. Die materielle Zweckbestimmung ergibt sich aus der Vereinbarung, nicht aus der Bezeichnung im Bestandsverzeichnis.

  • „Zweckverstoß = automatisch Unterlassung.“ Nicht zwingend. Es bedarf der typisierenden Mehrstörungsprüfung.

  • „Bauliche Veränderung“ = „Nutzungsänderung“. Falsch. Beides ist zu trennen. Klauseln müssen eindeutig sein.


FAQ

  • Kann die GdWE Wohnen im Teileigentum nachträglich erlauben? Ja, durch Vereinbarung aller Eigentümer oder wirksame Öffnungsklausel, die die Nutzungsart erfasst.

  • Welche Rolle spielt das öffentliche Baurecht? Unabhängig von WEG-Vorgaben müssen die baurechtlichen Voraussetzungen für Wohnen vorliegen (Nutzung, Stellplätze, Brandschutz). Baurechtlicher Bestand ersetzt keine fehlende WEG-Vereinbarung.

  • Wie weist die GdWE „typische“ Mehrstörung nach? Durch abstrakte Kriterien der Anlagenstruktur, Vergleich mit zulässigen Nutzungen, ggf. Sachverständigenstellungnahmen; nicht durch Einzelfallverhalten.

  • Rechtsverfolgung: Einzelner Eigentümer oder GdWE? Bei Störungen des Gemeinschaftseigentums die GdWE (§ 9a WEG). Bei reinen Sondereigentumsbeeinträchtigungen kommt auch Individualklage in Betracht.


Fazit

V ZR 284/19 schärft die Anforderungen an klare Nutzungsvereinbarungen und relativiert Pauschalannahmen zur Störintensität des Wohnens in gemischten Anlagen. Für die Praxis heißt das: TE/GO präzisieren, Öffnungsklauseln rechtssicher gestalten, vor Klageerhebung die typisierende Betrachtung stringent durchführen und Alternativinstrumente nutzen. So lassen sich Konflikte minimieren und Prozesse mit belastbarer Erfolgsaussicht führen.


Aktualisiert am 13.10.2025 von Harald Reiner, Hausverwaltung Reiner GmbH